Der Nutzen des EPD für die Diagnosesicherheit
Interview mit eHealth Suisse
Wir durften im Rahmen der Aktionswoche Patientensicherheit 2024 zum Thema «Diagnose. Eine Teamsache.» ein Interview mit eHealth Suisse, der Kompetenz- und Koordinationsstelle von Bund und Kantonen für die digitale Vernetzung im Gesundheitswesen, führen. Wir wollten von eHealth gerne wissen, welchen Einfluss das elektronische Patientendossier (EPD) auf den Diagnoseprozess und die Diagnosesicherheit haben kann. Lesen Sie die Antworten unten.
Das EPD ermöglicht Gesundheitsfachpersonen, die Berichte, Medikation, Allergien und Vordiagnosen von Patienten einzusehen, idealerweise sind diese Informationen vollständig im EPD abgelegt. Eine Gesundheitsfachperson, die den Patienten noch nicht kennt, kann sich so schnell ein Bild darüber verschaffen, welche Erkrankungen bei dem Patient bestehen und welchen Abklärungen und Diagnostiken bereits durchgeführt wurden. So können bei medizinischen Entscheidungen Fehler und Mehrfachuntersuchungen vermieden werden, die heute durch fehlenden Zugang zu den jeweiligen Informationen entstehen.
Bereits jetzt sind im EPD Untersuchungsberichte und Befunde vorhergehender Untersuchungen abrufbar, so zum Bespiel Laborwerte, Röntgenbilder, Lungenfunktionsuntersuchungen, etc. Dies ermöglicht eine direkte Vergleichbarkeit der aktuellen Befunde mit vorherigen Befunden, ohne dass Gesundheitsfachpersonen diese Informationen wie Puzzle-Teile von unterschiedlichen Stellen zusammentragen müssen.
In Zukunft ist geplant, dass medizinische Informationen, welche in sogenannten Austauschformaten vorliegen, aus dem EPD direkt in das Software-System der Gesundheitsfachpersonen übertragen werden können und umgekehrt. Eines dieser Austauschformate existiert bereits, der elektronische Impfausweis. Weitere sind in Entwicklung, so zum Beispiel der eMedikationsplan, der eNotfallpass und der eSchwangerschaftspass.
Wenn beispielsweise eine Hausärztin einen Patienten einem Fachspezialisten zuweisen möchte, kann dieser Fachspezialist durch den Zugriff aus EPD alle für ihn wesentlichen Befunde im Vorhinein einsehen und im besten Fall (bei einer tiefen Integration seines Primärsystems) bereits in sein System übertragen. So kann der Fachspezialist die Konsultation besser vorbereiten und beispielsweise schon weitere Abklärungen planen, sodass der Diagnoseprozess beschleunigt wird. Insbesondere wenn mehrere Fachspezialisten involviert sind, ist es für die Beteiligten hilfreich, wenn sie auch die Befunde des Kardiologen oder Gastroenterologen einsehen können, um sich schneller ein vollständiges Bild über den Gesundheitszustand des Patienten zu machen.
Auch für z.B. Physiotherapeuten ist es relevant, die Berichte der Patienten einsehen zu können, damit sie ihre Therapie besser planen können.
Das EPD kann diese Probleme deutlich reduzieren. Es ermöglicht jederzeit den Zugang für Gesundheitsinstitutionen auf die medizinischen Informationen des Patienten, vorausgesetzt der Patient erlaubt den Zugriff. So können aktuelle Medikationslisten, Rezepte, Berichte und Befunde eingesehen werden. Die Gesundheitsfachperson kann auch sehen wer diese wann hochgeladen hat und sich daher auf diese Informationen eher verlassen, als z.B. auf ein gefaxtes Rezept in unleserlicher Handschrift.
Patienten haben durch das EPD jederzeit Einblick in ihre Befunde und können so ihre gesundheitlichen Veränderungen nachvollziehen. Informierte Patienten können den Gesundheitsfachpersonen auf Augenhöhe begegnen und gezielte Fragen stellen.
Der administrative Aufwand entsteht dann, wenn man die Portallösung nutzt, das heisst, wenn Dokumente und Daten per Hand vom Software-System der Gesundheitsfachperson in das EPD hochgeladen werden. Dies ist die einfachste und günstigste Lösung für den EPD-Anschluss, aber eben auch diejenige, die einen gewissen Zusatzaufwand bedeutet. Aktuell werden Befunde und Berichte auf dem Postweg, per Fax oder gesicherter Mail versendet, wenn stattdessen diese Dokumente via Portal im EPD hochgeladen würden, bliebe der Aufwand für Spitäler und Praxen in etwa gleich.
Wenn ein Patient ins Spital eingewiesen wird und dort nicht vorbekannt ist, entsteht insbesondere für die Assistenzärzte ein hoher administrativer Arbeitsaufwand. Sie müssen dann die aktuelle Medikation und alle Voruntersuchungen der unterschiedlichen Gesundheitsfachpersonen, bei welchen der Patient in Behandlung ist, zusammentragen und manuell von Papier oder PDF in das Klinikinformationssystem übertragen. Dieser Prozess ist nicht nur aufwändig, sondern auch fehleranfällig. Die Zeit, die sie hierfür verwenden müssen, fehlt dann für die klinische Ausbildung oder führt zu Überstunden.
Bei jungen gesunden Patienten mit einer Verletzung, die gut über ihren Gesundheitszustand Auskunft geben können, mag dies weniger relevant sein, aber bei älteren, multimorbiden Patienten, die den Namen ihrer Medikamente und ihrer Diagnosen sowie vielleicht auch den Namen ihrer Behandelnden nicht immer kennen, kann dies sehr schwierig werden und zu Mehrfachuntersuchungen und falschen Medikationen führen. Vor allem am Wochenende und in der Nacht wird durch den fehlenden Zugang zu diesen Informationen der Diagnoseprozess verlangsamt und nicht selten der Beginn einer sinnvollen Behandlung verzögert.
Wichtig ist hier die sogenannte tiefe Integration, das bedeutet, dass das Software-System in Spital, Rehaklinik, Praxis oder Pflegeheim automatisch abfragt, ob der Patient ein EPD hat und neue Dokumente automatisch abruft. Wenn z.B. bei einem Spitalbesuch neue Befunde entstehen, werden diese nicht nur an den Zuweiser und Hausarzt versendet, sondern auch ins EPD des Patienten hochgeladen. So haben alle nachfolgenden Behandelnden, sofern sie vom Patienten berechtigt wurden, Zugriff auf diese Befunde.
Ein Patient stellt sich ärztlich vor wegen einer Erkrankung, für diese Erkrankung ist aber eine diagnostische Abklärung, z. B. eine Bildgebung und eine Blutabnahme mit rheumatologischen Parametern notwendig. Der Patient wird hierfür angemeldet. Durch den Zugang zum EPD kann der befundende Radiologe nachvollziehen, welche Bildgebungen bereits durchgeführt wurden und vorherige Bildgebungen über einen Link im EPD herunterladen. So kann er diese mit dem aktuellen Bild vergleichen. Ebenso kann die involvierte Rheumatologin neben den aktuellen Laborwerten auch frühere Laborwerte einsehen, die in anderen Praxen oder Labors durchgeführt wurden. Eine solche Möglichkeit ist wichtig, um Normvarianten von tatsächlich pathologischen (krankhaften) Befunden zu unterscheiden.
Status heute: Sind mehrere FachärztInnen in die Abklärung involviert (zum Beispiel bei unklarem Bewusstseinsverlust ein Kardiologe und ein Neurologe) verläuft der Diagnoseprozess aktuell so: Der Patient wird dem Kardiologen zugewiesen, wartet auf den Termin, der Kardiologe findet keine Auffälligkeiten und schreibt einen Bericht an den Hausarzt. Der Hausarzt bietet den Patienten auf, bespricht den Befund mit ihm, der Patient fühlt sich jedoch weiterhin unwohl. Daraufhin weist der Hausarzt den Patienten neurologisch zu, der Patient wartet wieder Wochen oder Monate auf einen Termin, der Neurologe sieht ihn, entscheidet es muss ein MRI mit Gefässdarstellung und ein EEG gemacht werden. Der Patient muss wieder warten. Zudem muss der Patient bei jeder neuen ärztlichen Vorstellung seine Krankheitsgeschichte neu erzählen, Fragebögen ausfüllen und seine Medikamente angeben.
Mit dem EPD sind die wichtigen Aspekte der Anamnese wie Vordiagnosen, Operationen, Medikation, Allergien, häufige Erkrankungen in der Familie, Beruf, Arbeitstätigkeit und Wohnsituation für den Kardiologen und den Neurologen schon vor der Konsultation einsehbar, sodass der Patient diese nicht zum wiederholten Mal erzählen muss. Die Konsultation kann direkt mit der Problematik beginnen, wegen welcher der Patient zugeiwesen wird. Die Befunde wären schneller verfügbar und die Abklärungen könnten gezielter durchgeführt werden und teilweise parallel laufen.
Die Stiftung Patientensicherheit Schweiz unterstützt das EPD, da es – wenn die bestehenden Herausforderungen bewältigt werden und es flächendeckend aktiv genutzt wird – den Versorgungsprozess unterstützen, Patient:innen zu mehr Beteiligung an ihrer medizinischen Versorgung befähigen und nicht zuletzt die Patient:innensicherheit fördern kann.
Weitere Informationen zum EPD finden Sie auf der Website von eHealth Suisse.
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