Patientensicherheit

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Just Culture

In einer Just Culture, oft als Gerechtigkeitskultur übersetzt, besteht eine Atmosphäre des Vertrauens, in der die Mitarbeitenden über sicherheitsrelevante Fehler und Bedenken sprechen, ohne Angst vor Strafe oder Tadel haben zu müssen. Gemeinsame Werte, Überzeugungen und Einstellungen in Bezug auf die Sicherheit sollen davor schützen, Menschen Vorwürfe zu machen und zu bestrafen, wenn es zu unbeabsichtigten Fehlern kommt. Vielmehr werden diese Fehler analysiert, damit daraus abgeleitete Systemanpassungen dazu beitragen, dass künftig ähnliche Fehler nicht mehr vorkommen.

Im Projekt «Just Culture im Gesundheitswesen» wurde im Auftrag der EQK eine Machbarkeitsstudie durchgeführt, um zu untersuchen, ob und mit welchem Fokus Projekte zur Stärkung der «Just Culture» im Gesundheitswesen der Schweiz umgesetzt werden können.

Definition und Stand der Umsetzung im schweizerischen Gesundheitswesen

In einer Delphi-Befragung wurde zusammen mit Expert:innen aus den verschiedensten Bereichen des schweizerischen Gesundheitswesens eine Definition einer Just Culture (JC) für das Gesundheitswesen in der Schweiz erstellt. Es wurde ausserdem untersucht, ob das Konzept der Just Culture in den schweizerischen Gesundheitsorganisationen oder anderen Branchen implementiert ist und wie es gelebt wird.

Auf der Makroebene des Gesundheitswesens wurde auf Bundesebene zur Qualitätsentwicklung und -strategie das Ziel kommuniziert, eine JC im Gesundheitswesen umzusetzen; konkrete Ansätze gibt es noch nicht. Auch die kantonalen Erlasse und Beschlüsse enthalten bislang keine genauen Angaben dazu, inwiefern z.B. im Rahmen eines Critical Incident Reporting System (CIRS) eine JC zu implementieren ist. Einzelne Kantone (Zürich, Wallis, Zug) haben aber bereits erste Massnahmen zur Umsetzung einer JC eingeleitet.

Auf der Mesoebene konnten nur vereinzelte Aktivitäten in der Schweiz identifiziert werden (z.B. die Erstellung und Implementierung eines Entscheidungsbaums im Kanton Waadt). Zudem gibt es einzelne Zertifizierungen, in denen Anforderungen zu Sanktionsfreiheit und Patient Safety Culture definiert sind.

Auf der Mikroebene gibt es wenig Aktivität im Bereich JC. Das Konzept ist noch wenig bekannt. Abgesehen von der Romandie gibt es in den Gesundheitsinstitutionen kein offizielles Commitment zu JC. Es fehlen Vorgaben, es wird bisher nicht mit spezifischen Tools gearbeitet und die Führungskräfte und Mitarbeitenden werden nicht im Thema ausgebildet.

Just Culture in Gesundheitssystemen anderer Länder

Manche Gesundheitssysteme oder andere Branchen im internationalen Umfeld arbeiten bereits mit einer Just Culture. Es wurde untersucht, wie dort eine Just Culture auf unterschiedlichen Ebenen und Bereichen implementiert wurde, welche Methoden und Instrumente dazu verwendet wurden und wie eine nachhaltige Implementierung gelingen kann.

Es wurde festgestellt, dass die Gesundheitsorganisationen, die aktiv mit einer Just Culture arbeiten, sich mehrheitlich an der Restorative Just Culture von Dekker (2016) orientieren. Darin wird in einem ersten Schritt gefragt, wer geschädigt wurde und welche Bedürfnisse diese Personen haben. In einem weiteren Schritt wird festgelegt, wer diese Bedürfnisse aufgreifen muss. Diejenigen Personen, die an der Verursachung des unerwünschten Ereignisses beteiligt waren, möchten sich möglicherweise an der Erfüllung dieser Bedürfnisse beteiligen und auf diese Weise Verantwortung übernehmen. Gemeinsam kann dann aus dem unerwünschten Ereignis gelernt und alles dafür getan werden, dass sich ein solches Ereignis in Zukunft nicht wiederholt. Das Spezielle an diesem Ansatz ist, dass alle betroffenen Personen (Geschädigte, an der Schädigung Beteiligte, Umfeld, etc.) einbezogen werden.

Empfehlungen

Aus den zusammengetragenen Informationen wurden Tools und Empfehlungen abgeleitet, um die Implementierung einer Just Culture und damit verbunden einer Patient Safety Culture (PSC) auf Makro-, Meso- und Mikroebene im Gesundheitssystem der Schweiz zu unterstützen. Im Folgenden werden die Schwerpunkte der einzelnen Ebenen kurz umrissen. Im Dokument Empfehlungen Just Culture für die Makro-, Meso- und Mikroebene werden konkrete Ansatzpunkte zur Umsetzung beschrieben.

Bund und Kantone können eine Just Culture unterstützen und fördern, indem sie (1) Rechtsgrundlagen schaffen für einen gerechten Umgang mit allen an einem Ereignis Betroffenen, Insbesondere sollte dabei diskutiert und anschliessend gesetzlich verankert werden, wie und durch wen die Grenze zwischen akzeptablem und inakzeptablem Verhalten gezogen wird, wie Sicherheitsdaten (z.B. Daten aus CIRS) und Meldende vor Zugriff durch die Justiz geschützt werden können und wie Betroffene (zivilrechtlich) für entstandene Schädigungen entschädigt werden können, auch ohne, dass die Schuldfrage geklärt ist.

Gesundheitspolitische Massnahmen können (2) die Entwicklung allgemeiner Konzepte und Standards zu Themen der Patientensicherheit, PSC und JC sein (z.B. die Messung von Indikatoren zu JC/PSC, Lernen aus Fehlern und Unterstützungsprogramm für First und Second Victims). Die Gesundheitsorganisationen befinden sich in unterschiedlichen Stadien, wenn es darum geht, die Kapazitäten und Fähigkeiten zur Verringerung vermeidbarer Patientenschäden in der Gesundheitsversorgung aufzubauen. Es ist deshalb ein breites Unterstützungsangebot nötig, um die unterschiedlichen Reifegrade in den Organisationen erreichen zu können.

(3) Die Ernennung (und damit die Finanzierung) einer unabhängigen Organisation für die Entgegennahme, Analyse, Zusammenfassung und öffentliche Berichterstattung von Informationen über die Sicherheit der Gesundheitsversorgung des Landes und gegebenenfalls die Kommentierung der Fortschritte ist eine Voraussetzung für den Aufbau hochzuverlässiger Gesundheitssysteme und -organisationen.

(4) Vorgaben zur Curriculumsentwicklung für alle Gesundheitsberufe helfen dabei, das Thema Patientensicherheit (inklusive PSC, JC, komplexe Systeme, Human Factors) in der Aus-, Fort- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe zu verankern.

(5) Um neue Erkenntnisse zu bekommen evidenzbasiert arbeiten zu können soll die Forschung auf dem Gebiet der Patientensicherheit, PSC und JC gefördert werden.

(6) Geeignete Strategien zur Umsetzung einer JC von Seiten der Behörden zu finden ist eine Herausforderung und muss noch weiter erforscht werden. Das grundlegendste Element in diesem Prozess ist die Institutionalisierung gemeinsamer Diskussionen und Risikobewertungen von Gefahren der Patientensicherheit mit Führungskräften und Beschäftigten in Gesundheitsorganisationen.

(1) Berufsverbänden und Fachgesellschaften kommt eine wesentliche Rolle zu, wenn es darum geht, die Themen Patientensicherheit, PSC und JC in die Lehrpläne der Grundausbildungen und in postgradualen Programmen aufzunehmen und die Bewertung der Sicherheitskompetenzen als obligatorischen Be-standteil der Ausbildungen zu deklarieren.

(2) Förder- und Anreizsysteme im Gesundheitssystem unterstützen Patientensicherheit, PSC und JC durch Prämiennachlässe bei sicherheitsbedachten Gesundheitsdienstleistern und fördern die Patientensicherheit durch Forschung und Training.

(3) Patientenorganisationen, Patientinnen/Patienten und Angehörige unterstützen Gesundheitsdienstleister bei der Fehler- und Risikoerkennung und bei der Umsetzung einer JC, (4) Universitäten, Hochschulen und Berufsschulen forschen zu Patientensicherheit, PSC und JC und bilden Gesundheitsfachpersonen in diesen Themen aus und (5) die nationale Koordinationsstelle ist nationale Meldestelle für Fehler und Ereignisse, führt Analysen durch und leitet davon Massnahmenempfehlungen ab.

(1) Damit eine JC in einer Organisation eingeführt werden kann, müssen gewisse Voraussetzungen geschaffen sein. Dazu gehört z.B. die Annahme von Wohlwollen und einer Haltung der Offenheit, des Vertrauens und der Fairness, um verstehen zu können, wie die Dinge funktionieren und warum sie so funktionieren. Auch eine flache Hierarchie hilft dabei. Es ist auch wichtig, vor der Ausarbeitung des Konzepts JC eine Messung der PSC/JC durchzuführen und dann in regelmässigen Abständen Messungen mit demselben Tool durchzuführen, um die Implementierung einer JC zu evaluieren. Für schwach eingeschätzte Bereiche können dann weitere Massnahmen ausgearbeitet werden.

(2) Führungskräfte sollten sich stark für die Schaffung einer JC engagieren, indem sie sichtbar, zugänglich und ansprechbar sind und sich für die Bereitstellung der erforderlichen Unterstützung und Ressourcen einsetzen. Das Ziel des Managements für den Aufbau einer JC muss es sein, Vertrauen und psychologische Sicherheit unter allen Beschäftigten in der Organisation zu stärken und die Prinzipien einer JC in ihrem Einflussbereich zu vertreten.

(3) Eine Just Culture Arbeitsgruppe verfolgt einen positiven und proaktiven Ansatz für JC und unterstützt die Meldung von Ereignissen und die PSC. Die Arbeit der Gruppe ist nach der Implementierung nicht getan, sondern wird in regelmässigen Sitzungen und Aktivitäten mit dem Ziel der Erhaltung der JC weitergeführt.

(4) Nach einer ersten Patientensicherheitskulturmessung und/oder Reifegradeinschätzung in der Gesundheitsorganisation arbeitet die Arbeitsgruppe zusammen mit Arbeitnehmenden- und Patientenvertretenden und Vertretenden der Unternehmensleitung einen Aktionsplan für eine JC aus.

(5) Die Mitarbeitenden und Arbeitsteams sollten von der Organisation so früh wie möglich in eine nachhaltige Implementierung einbezogen werden, damit die JC in der Organisation bekannt wird und aufleben kann.

(6) Die Überprüfung eines unerwünschten Ereignisses garantiert nicht, dass die aus diesem Vorfall gezogenen Lehren zu einer wirksamen Systemverbesserung und zur Verhinderung ähnlicher Schäden führen werden. Ansätze zur Verhaltensänderung (die sich auf die Aufmerksamkeit und Wachsamkeit des Individuums abstützen) werden als schwächer eingestuft als solche, die auf die Systemebene abzielen. Kulturelle Veränderungen und Zwangsfunktionen haben eine grössere und länger andauernde Wirkung als Bildung und neue Richtlinien, aber sie erfordern auch einen viel grösseren Aufwand, um sie zu erreichen.

(7) Die nachhaltige Verankerung einer JC in der Organisation ist für den Erfolg aller Massnahmen verantwortlich. Menschen neigen dazu, zu dem, was sie kennen und mit dem sie vertraut sind, zurückzukehren und wieder in alte Muster zu verfallen. Es braucht deshalb konzentrierte Anstrengungen und Zeit, um zu sicherzustellen, dass die Veränderung hin zu einer JC greift.

Es gibt nur wenige Tools, die sich konkret mit JC befassen; jedoch gibt es einige Tools, die eine Patient Safety Culture (PSC) unterstützen und auch Elemente einer JC beinhalten. Es stehen (1) Instrumente zur Messung einer JC/PSC zur Verfügung, (2) Reifegradmodelle, die zur Beurteilung und Verbesserung einer JC/PSC dienen können, (3) Leitlinien, die den Aufbau und die Implementierung einer JC/PSC unterstützen können und (4) Tools, die Elemente und Voraussetzungen einer JC unterstützen, wie z.B. die offene Kommunikation, psychologische Sicherheit und Teamtraining.

Auf diese Weise soll die Patient:innensicherheitskultur und damit die Patient:innensicherheit gestärkt werden. Fehler sollen als menschlich angesehen werden und als Chancen, aus ihnen zu lernen und Massnahmen zur Risikoverminderung entwickeln zu können.

Short Facts

Laufzeit: Feb. 2023 – März 2024
Budget: CHF 149’918
Leitung: Andrea Leibold
Finanzierung: Eidgenössische Qualitätskommission (EQK)

Kontakt

Andrea Leibold
Projektleiterin
+41 43 244 14 83
leibold@patientensicherheit.ch

«Es hat sich gezeigt, dass sich das schweizerische Gesundheitswesen im Hinblick auf eine Just Culture noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium befindet. Um die Just Culture effektiv und nachhaltig zu implementieren, bedarf es der gleichzeitigen Umsetzung verschiedener Massnahmen auf Makro-, Meso- und Mikroebene.»

Andrea Leibold
Projektleiterin

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